In der Küche hast du das gesagt, als wir über die Schule gesprochen haben.
Ja.
Meintest du das freundschaftlich, oder wie?
Sie starrte auf ihren Schoß. Sie trug einen Cordrock, und in dem Licht, das vom Fenster kam, konnte sie sehen, dass er mit Fusseln bedeckt war.
Nein, nicht nur freundschaftlich, sagte sie.
Oh, okay. Ich hab mich schon gefragt.
Er saß da und nickte vor sich hin.
Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich empfinde, fügte er hinzu. Ich glaube, es wäre echt komisch in der Schule, wenn zwischen uns was passiert.
Es müsste niemand wissen.
Er sah sie an, ganz direkt, ganz aufmerksam. Sie wusste, dass er sie küssen würde, und er tat es. Seine Lippen waren weich. Seine Zunge glitt sanft in ihren Mund. Dann war es vorbei, und er wich zurück. Ihm schien einzufallen, dass er das Buch in der Hand hielt, und wieder sah er es sich an.
Das war schön, sagte sie.
Er nickte, schluckte, sah noch einmal auf das Buch. Er wirkte verlegen, als wäre es unanständig von ihr, auf den Kuss auch nur Bezug zu nehmen, und Marianne musste lachen. Jetzt schien er verwirrt.
Na gut, sagte er. Worüber lachst du?
Nichts.
Du führst dich auf, als hättest du noch nie jemanden geküsst.
Hab ich auch nicht, sagte sie.
Er bedeckte sein Gesicht mit der Hand. Sie lachte wieder, sie konnte sich nicht zurückhalten, und dann lachte er auch. Seine Ohren waren sehr rot, und er schüttelte den Kopf. Nach ein paar Sekunden stand er auf, das Buch hielt er in der Hand.
Sag niemandem in der Schule was davon, ja?, bat er. Als ob ich mit irgendwem in der Schule reden würde. Er verließ das Zimmer. Schlaff sackte sie von der Fensterbank auf den Boden, die Beine ausgestreckt wie eine Stoffpuppe. Während sie da saß, kam es ihr so vor, als hätte Connell sie nur zu Hause besucht, um sie zu testen, und sie hätte den Test bestanden, und der Kuss wäre eine Botschaft, die besagte: Du hast bestanden. Sie dachte daran, wie er gelacht hatte, als sie ihm sagte, sie hätte noch nie jemanden geküsst. Von jedem anderen wäre es vielleicht gemein gewesen, so zu lachen, aber bei ihm war es etwas anderes. Sie hatten zusammen über eine Situation, in der sie sich gemeinsam befanden, gelacht, auch wenn Marianne nicht genau wusste, wie sie die Situation beschreiben sollte oder was daran lustig war.
Am nächsten Morgen vor der Deutschstunde sah sie ihren Klassenkameraden dabei zu, wie sie sich gegenseitig kreischend und kichernd von der Heizung stießen. Im Unterricht waren sie still und hörten die Aufnahme einer deutschen Frau, die über eine verpasste Party sprach. Es tut mir sehr leid. Nachmittags fing es an zu schneien, dicke graue Flocken schwebten an den Fenstern vorbei und schmolzen auf dem Kies. Alles wirkte sinnlich auf sie: die verbrauchte Luft im Klassenzimmer, die blecherne Schulklingel zwischen den Stunden, die dunklen, kargen Bäume, die wie Geister um das Basketballfeld standen. Das langsame, routinierte Übertragen von Notizen mit verschiedenfarbigen Stiften auf neue blau-weiß-linierte Seiten. Wie üblich sprach Connell in der Schule nicht mit Marianne, er sah sie nicht einmal an. Sie beobachtete ihn im Klassenzimmer, wie er Verben konjugierte, dabei auf seinem Stift kaute. Wie er mittags am anderen Ende der Cafeteria mit seinen Freunden zusammensaß und über etwas lächelte. Ihr Geheimnis wog angenehm schwer in ihrem Körper und drückte auf ihre Beckenknochen, wenn sie sich bewegte.
An diesem Tag sah sie ihn nach der Schule nicht, auch nicht am nächsten. Am Donnerstagnachmittag arbeitete seine Mutter wieder, und er kam früh, um sie abzuholen. Marianne musste an die Tür gehen, weil sonst niemand zu Hause war. Er hatte die Schuluniform ausgezogen und trug schwarze Jeans und ein Sweatshirt. Als sie ihn sah, wollte sie instinktiv weglaufen und ihr Gesicht verbergen. Lorraine ist in der Küche, sagte sie. Dann drehte sie sich um, ging nach oben in ihr Zimmer und schloss die Tür. Sie legte sich mit dem Gesicht nach unten aufs Bett und atmete in ihr Kissen. Wer war dieser Connell überhaupt? Sie glaubte, ihn bestens zu kennen, aber wie kam sie darauf?
Nur weil er sie einmal geküsst hatte, ohne Erklärung, und sie dann ermahnt hatte, es niemandem zu sagen? Nach ein oder zwei Minuten hörte sie ein Klopfen und richtete sich auf. Herein, sagte sie. Er öffnete die Tür, und nachdem er ihr einen prüfenden Blick zugeworfen hatte, wie um zu sehen, ob er willkommen war, trat er ein und machte die Tür hinter sich zu.
Bist du sauer auf mich?, fragte er.
Nein, warum sollte ich?
Er hob die Schultern. Dann schlenderte er zum Bett und setzte sich. Sie saß im Schneidersitz, umklammerte ihre Knöchel. Schweigend saßen sie eine Weile da. Dann rückte er neben sie. Er berührte ihr Bein, und sie lehnte sich gegen das Kissen. Verwegen fragte sie ihn, ob er sie wieder küssen würde. Er sagte: Was denkst du? So eine Erwiderung erschien ihr höchst kryptisch und ausgeklügelt. Jedenfalls küsste er sie. Sie sagte ihm, dass es ihr gefiel, und er sagte einfach nichts. Sie glaubte, sie würde alles tun, damit er sie mochte, damit er laut sagte, dass er sie mochte. Er schob seine Hand unter ihre Schulbluse. Sie sagte ihm ins Ohr: Können wir uns ausziehen? Seine Hand war in ihrem BH. Definitiv nicht, sagte er. Das ist sowieso dumm, Lorraine ist unten. Er nannte seine Mutter einfach so beim Vornamen. Marianne sagte: Sie kommt nie hier hoch. Er schüttelte den Kopf und sagte: Nein, wir sollten aufhören. Er setzte sich auf und sah sie an.
Eine Sekunde lang warst du versucht, sagte sie.
Nicht wirklich.
Ich hab dich in Versuchung gebracht.
Er schüttelte lächelnd den Kopf. Du bist so eine seltsame Person, sagte er.
Jetzt steht sie in seiner Einfahrt, wo sein Auto parkt. Er hat ihr die Adresse geschickt, Nummer 33: ein Reihenhaus mit Waschbetonfassade, Gardinen, einem winzigen betonierten Hof. Oben ist ein Fenster beleuchtet. Sie kann sich kaum vorstellen, dass er wirklich dort wohnt, in einem Haus, in dem sie noch nie war und das sie noch nie auch nur gesehen hat. Sie trägt einen schwarzen Sweater, einen grauen Rock, billige schwarze Unterwäsche. Ihre Beine sind sorgfältig rasiert, ihre Achseln glatt und vom Deo kreidig, und ihre Nase läuft ein bisschen. Sie klingelt und hört seine Schritte auf der Treppe. Er öffnet die Tür. Bevor er sie reinlässt, sieht er über ihre Schulter, um sich zu vergewissern, dass niemand ihr Eintreffen bemerkt hat.
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